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TRAUMFLUCHTVERÄNDERUNG

Als ich wieder einen Brief von ihm erhalten habe, der teilweise wortwortlich all jenen vorausgegangenen glich, immer wieder die gleichen Gesichtspunkte umkreisend, da kramte ich diese ganzen Briefe noch einmal heraus und las sie einen Nachmittag lang. Ich merkte, daß es nicht immer das gleiche war, was er schrieb, obwohl es vorwiegend um die bestimmten Fragen ging, nein, in jedem Brief stand neben den wieder- kehrenden Sätzen und Aussagen ein kleines Mosaiksteinchen mehr. So setzte sich ein neues, erweitertes Bild von einem Menschen zusammen, das einfach beeindruckte in seiner Wucht und gefühlsmäßigen Klarheit. Und es stach mir seine dreimalige Flucht ins Auge. Deswegen wagte ich den Versuch, anhand einer konkreten, recherchierten Realität einen kleinen Ausschnitt herauszufiltern aus der Wirklichkeit, um so am Beispiel des Schicksals eines Jugendlichen Strafgefangenen, eine »Reflexion über die Möglichkeit auszubrechen« anzustellen. Wobei eben dieser kleine Teil einer Geschichte für den allgemeinen Problemkreis TRAUM -FLUCHT – VERÄNDERUNG zu stehen kommen soll und nicht nur ein dokumentarisch abgefilmtes Stück Wirklichkeit darstellen soll.

Der Film arbeitet sehr stark mit seinen schwarz-weißen Bildern und der Poesie der Gedichte. Authentizität dadurch zu erreichen, indem man nur die Handlungen, deren Hintergründe und Abläufe rekonstruiert, schien mir zu wenig. Mir ging es vor allem um eine gefühlsmäßige Ebene, daß sich beim Zuschauer ein Gefühl einstellt durch den Film, das unmittelbar mit dem Verständnis seines Schicksals oder seiner Geschichte verknüpft ist. Die rein faktische Verarbeitung von Problemen, die sich uns und dieser Gesellschaft stellen, ist sicherlich entscheidend und wichtig. Aber gerade in einer Zeit der zunehmenden Anonymität, der Zerstörung erprobter Zusammenhänge menschlichen Zusammenlebens, scheint gerade eine emotionale Anteilnahme an Fragen, die uns nicht mehr unmittelbar betreffen, mit denen wir schon gar nicht in Berührung kommen, zunehmend wichtig.

Und in gewisser Weise sind die Träume eines jugendlichen Strafgefangenen im Knast mit den unseren vergleichbar. Es geht um die Überwindung von Zuständen, die lähmen, die uns hindern, das zu leben, was wir träumen. Es geht vielleicht auch um die Hoffnung, daß es besser werden könnte, auch wenn die Zeit und die Umstände dies nicht verheißen, eben einen Ausweg zu finden aus der Misere, die uns umgibt.

 

 

 

 

In der langen Zeit der Herstellung dieses Projekts gab es für mich viele Phasen des Zweifels, einfach nicht der Komplexität dieser Fragestellungen mit den minimal zur Verfügung stehenden Mitteln gerecht werden zu können. Und auch wenn man genügend Geld, Zeit und Möglichkeiten hätte, würde ein Rest jener Unergründlichkeit dieser Fragen und Probleme weiter bestehen. Es gibt vielleicht Fragen, die man nie richtig wird beantworten können, die einen ein Leben lang beschäftigen, von denen man nicht loskommt, wie Franz, der mit seiner Flucht aus dem Knast, mit dem Klau eines Motorrollers nur weiter hineinfährt in die Welt der undurchschaubaren Verstrickungen und Labyrinthe.

In einer der für mich schönsten Szene dieses Films, sitzt Franz mit Andrea in einem verschrotteten Mercedes, der auf dem Baugelände dahinrostet und erzählt auf Andreas Fragen, was seine Gefühle und Sehnsüchte sind; seine Hände schreiben dabei eine andere Geschich-
te auf die Windschutzscheibe. Die fahrig-nervösen Finger setzen scheinbar wahllos Strich, die sich nach und nach zu einem Labyrinth verdichten. Am Ende seines ruhigen, gebrochenen Redeflusses wischt er diese Hieroglyphen seines Unterbewußtseins mit einer raschen
Handbewegung weg. Die Distanz zwischen Kamera und ihm, zwischen Zuschauer und ihm ist an dieser Stelle vielleicht endgültig gebrochen.

Christian Wagner